Vom "Lass mich in Ruhe" zum "in Ruhe lassen"
- hallo81069
- 3. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Gastbeitrag von Claudia Lindt

Lass mich in Ruhe
Ich mag keine Zeile mehr lesen und keine mehr schreiben. Alles ist zu viel. Nichts geht mehr rein.
Kennst du das?
Alle und alles scheint däumchendrehend auf dich zu warten. Die gute Freundin, die schon lange auf deinen Terminvorschlag wartet, die Postkarte für die Großmutter möchte geschrieben werden, der Wäschekorb der geduldig überquillt und dich in seiner demonstrativen Gelassenheit provoziert. Von der To-do-Liste mit dem Dringendsten, die immer länger wird ganz zu schweigen.
Du weißt schon so viel über dich, müsstest doch längst checken, um was es geht und wie es geht, und doch scheint manchmal alles in sich verknotet und du tappst im Dunkeln.
Was soll ich schon Hilfreiches beitragen in dieser verrückten Welt, fragst du dich vielleicht. Du bist hier am Lesen, du bist auf deiner Spur, vertrau dir und öffne dich für die Möglichkeit, dass du dir selbst immer gelassener, großzügiger, weicher und wacher begegnen kannst.
Ach, ich bin so müde
Wie oft hören wir das. Von uns selbst und anderen. All das «Viele» frisst munter unsere Energie-Reserven auf, und trotzdem glauben wir weiter funktionieren zu müssen. Jetzt ist es doch besonders wichtig dranzubleiben fordert eine ganz freundliche, aber gnadenlose Stimme in uns.
An was eigentlich? Keine Ahnung, wahrscheinlich am großen Selbstoptimierungs-Plan…irgendwie entspannter, freier, reicher, klüger, gesünder oder sonst was zu werden.
Das Einzige, was in der erschöpften Trägheit da noch lebendig sein kann ist meistens die Rebellion. Das groß «NEIN! Ich will nicht!» Abgrenzung passiert dann plötzlich mit der großen Keule. Lass mich bloß in Ruhe, mit all deinen Weisheiten und Ratschlägen!
Oh, und bitte keine Kalendersprüche, schlaue Zitate und gut gemeinte keine-Ahnung-was-Challenges!
Ich will einfach nur meine RUHE, bitte!
Wie soll man sich entspannen und das Leben genießen, wenn das Gefühl da ist sich dauer-optimieren zu müssen. Im besten Fall soll man dabei auch noch positiv denken und 5 Minuten meditieren, weil 5 Minuten hat man ja immer, sagen die, die’s scheinbar begriffen haben.
Da fühle ich voll mit einer Klientin mit, die das kürzlich so beschrieben hat: «Ja, aber wenn ich dann noch die 15 Minuten Yoga mache die ich ja auch immer habe, gesund koche, alle verdammten Treppen hochlaufe, natürlich die Übungen vom Physiotherapeuten mache, pflichtbewusst durch meine Wellbeeing-To do’s hetzte, die Kinder hole und bringe, dann könnte ich am Abend das Dankbarkeitstagebuch in die Ecke knallen und nur noch heulen.
Aber weißt du, was dann passiert? Nichts. Ich reiße mich zusammen und probiere zu schlafen.
Reiss dich bitte nicht zusammen. Lausche. Die Mit-Welt, dein Körper, deine Seele, dein Herz, deine Träume: sie sprechen mit dir! Lass mich ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern.
Vor Kurzem hatte ich diesen Traum: Es ging mir sehr gut, ich war im Flow, leitete ein Seminar an einem schönen Ort mit spannenden Menschen und ging dann an einen guten Ort zum Schlafen. Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit traf ich auf eine offensichtlich sehr schwierige Situation. Ich wollte helfen und stellte mich dazu an den Rand einer sandigen Straße.
Ich spürte nur noch wie der Boden weich wurde unter mir und dann: freier Fall. Nach dem ersten Schreck geschah, wie ein Erwachen und ich dachte: «Wie abgefahren, ich erlebe grad den freien Fall!» Die folgenden unendlichen Sekunden waren purer Genuss in vollstem Bewusstsein.
Danach: Nichts. Ruhige, dunkle Endlosigkeit. Irgendwann öffnete ich die Augen und fühlte mich, wie wenn ich aus einer unendlichen Ferne in eine andere Welt käme.
Eine liebe Freundin von mir war in diesem Zimmer und bügelte Kleider. Es stand ein Glas Wasser neben mir. Ich wollte einen Schluck trinken, aber das Glas fiel aus meinen Händen und zersplitterte in tausend Teile. Ich realisierte, dass ich schwer verletzt war. Bewegen war nur Schmerz und als ich sprechen wollte, kamen nur vermüselte Laute aus mir heraus. Ich staunte. Meine Freundin hat hier auf mein Erwachen gewartet, war immer da. In ihrem liebevollen bei-mir-sein begriff ich langsam, dass nichts mehr so sein würde wie es war. Überraschenderweise spürte ich eine so starke Lebenskraft, dass alles andere zweitrangig war.
Der freie Fall ist ein starkes Symbol für einen Übergang. In der Sprache meines Traums ein radikaler.
Einerseits erzählt dieser Traum eine individuelle Geschichte und unterstützt mich ganz persönlich in meinem Weiterwachsen. Andererseits spricht er auch von kollektiven Zyklen und Entwicklungsprozessen. Lebensphasen haben ihre Reifeschritte und Übergänge ein großes Potenzial.
Zum Beispiel die Wechseljahre.
Viele Frauen erleben ein Hadern mit den großen Veränderungen, die sich in dieser Wandelzeit manchmal leise anschleichen und manchmal mit der Tür ins Haus fallen.
Bei den Männern wird viel von der Midlife-Crisis gesprochen, obwohl auch sie Wechseljahre erleben sowie Frauen auch manchmal eine Midlife-Crisis. Die Symptome können sehr ähnlich sein: Der Körper, die Hormone, die Nerven, der Schlaf, die Sinnfrage… das große: und jetzt?
In der Mitte des Lebens ist die Chance nochmals durchzukämmen, zu prüfen und sortieren.
Was ist wirklich wichtig? Bin ich mir selbst (noch) treu? Was (wer) muss von der Klippe und was in die Schatztruhe. Was will aus dem stillen Kämmerlein in die Welt?
Das kann müde machen – muss aber nicht!
Meiner Ansicht nach ist eine Definition dieser stürmischen Phasen unwichtig. Wichtig ist es, die Kraft des Übergangs zu nutzen. Gehst du bewusst in diesen Prozess, musst du nicht ausbrennen, im Kampf gegen die Veränderung, sondern kannst aufblühen in deiner neuen Kraft!
Die neue Geschichte will gelebt werden
Du musst Veränderung nicht machen, sie passiert.
Versuchen wir zu viel zu machen, lenken, und kontrollieren, ermüden wir schnell. Im Geschehen lassen und begrüßen der Veränderung entsteht die Energie, die es braucht, um Schritt für Schritt in deine neue Geschichte hineinzuleben.
Was ist dein freier Fall?
In meinem Traum war ich in einem Raum, wo eine Freundin auf mein Erwachen gewartet hat und die ganze Zeit für mich präsent war.
Wir alle brauchen diese Räume, in denen wir das Gehalten-Sein von Wegbegleiter*innen spüren können. In denen wir in unseren Veränderungsprozessen nicht allein, sondern mit all unserem Hadern und Verknotet-sein willkommen und gesehen sind.
Kannst du dich selbst «in Ruhe lassen» mit all dem, was du bist und nicht bist, und mit dem, was sich verändert?
Möchtest du dazu noch an der einen oder anderen Stelle, etwas vergeben oder abschließen, etwas «ruhen lassen», um gelöst den nächsten Schritt zu gehen? Dieses anonyme Zitat ist mir gestern zugefallen, das mir aus dem Herzen spricht: «Heute habe ich entschieden zu vergeben. Nicht weil ich gutheiße, was passiert ist, sondern weil meine Seele Frieden verdient.»
Lasst uns Lauschen. Der Stimme des Herzens, den Tag- und Nachtträumen, den kuriosen Synchronitäten des Lebens und lasst uns vertrauen. Ich bin sicher: wenn wir mutig und authentisch unserem Weg folgen, dann finden wir Wegbegleiter*innen, die uns unterstützen und inspirieren. Gemeinsam geht es einfach leichter und meistens können wir unsere tiefen Ahnungen, Gefühle und inneren Stimmen erst in den Resonanzräumen mit anderen wirklich hören.
Und: Nein du musst gar nichts.
Ich lass dich jetzt mit meinen Gedanken in Ruhe.
Versprochen
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Claudia Lindt ist Tanz- und Bewegungstherapeutin ED

Claudia ist eine lebensliebende Prozess- und Wandelforscherin und eine nie ausgelernte Therapeutin, Dozentin, Supervisorin und Mentorin.
Beziehungen sind für sie das Herzstück und Lebenselixier für ein erfülltes, warm pulsierendes Leben. Sie begleitet Menschen allein, zu zweit, in Gruppen, drinnen oder draußen, kreativ und intuitiv.
Ihre Füße in der Zirkuspädagogik, ihr Herz in der Tanz- und Bewegungstherapie, folgt sie immer mehr dem Ruf in der Natur und befasst sich aktuell intensiv mit Zyklen und Übergängen.
Mehr zu Claudia:
Website: www.bewegtewege.ch Email: post@bewegtewege.ch




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